Fachkräftesicherung nur mit Berufskolleg als Systemanbieter

Am 24.06.2022 hat der Autor Prof. Dieter Euler von der Universität St. Gallen die Studie „Die Rolle des Berufskollegs im nordrhein-westfälischen Bildungssystem“ der damaligen Schul- und Bildungsministerin Yvonne Gebauer persönlich übergeben. Die Ministerin würdigt „die Berufskollegs in Nordrhein-Westfalen (als) eine tragende Säule des Bildungs- systems …“, die damit einen wichtigen Beitrag zur Fachkräf- tesicherung leisten.

Die Zieldimensionen für die Leistungseinschätzung der Berufskollegs

In Anlehnung an den seit 2006 im Zweijahresturnus erschei- nenden Nationalen Bildungsbericht legen die Verfasser der Studie1 die folgenden Zieldimensionen als Kriterien zur Einschätzung des aktuellen und zukünftigen Leis- tungspotenzials von Berufskollegs zugrunde:

  • Ökonomische Leistungsfähigkeit, d. h. Sicherung des Bedarfs an qualifizier- ten Fachkräften,

  • Individuelle Persönlichkeitsentwicklung, d. h. vielfältige Vermittlung beruflicher und gesellschaftlicher Handlungskompetenzen entsprechend der jeweiligen Bildungsvoraussetzungen in den geeigneten und abgestimmt durchlässigen Bildungsgängen,

  • Soziale Integration, d h. Ermöglichung entsprechender Zugangs-, Teilhabe- und Realisierungschancen für die nachwachsende Generation, unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit.

Leistungsspektrum und -potenziale

So verwundert es auch nicht, dass in der Bewertung die Verfasser im Kapitel 4 der Studie eindeutig zu dem Ergebnis kommen, dass die Berufskollegs das Dach für derzeit 16 Bildungswege in den vier Sektoren des Berufsbildungssystems sind und mit ca. 31 % in NRW die Schulform der Sekundarstufe II mit den meisten Schülerinnen und Schülern sind.

1 Vgl. Studie „Die Rolle des Berufskollegs“ 2022, S. 6ff. unter: https://www.schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/ rolle_berufskolleg_bildungssystem_nrw_220524.pdf

Darüber hinaus gehören zu ihren Stärken:

  • Stabile Säule in der Stärkung der dualen Berufsausbildung mit vielfältigen Förder- und Forderangeboten für Auszubildende von Deutsch als Zielsprache, Kurse für Zugewanderte, KMK-Fremdsprachenzertifikate oder IT-Zusatzqualifikationen,
  •  Flexible Anpassung der Bildungsangebote an den regionalen Arbeits- und Ausbildungsmarkt, z. B. durch die kurzfristige Einrichtung oder Veränderung von Klas- sen und/oder Bildungsgängen,
  • Enge Verzahnung von allgemeiner und beruflicher Bildung, z. B. beim Erwerb von Bildungsabschlüssen (80 % aller Fachhochschulreifen in NRW werden am Berufskolleg erworben) bis hin zur Verzahnung von

beruflicher und akademischer Bildung im Rahmen der FHR-Doppelqualifizierung, dualer Studiengänge bzw. einer studienintegrierenden Ausbildung oder mit dem neuartigen Konzept SiA-NRW2, das den parallelen Erwerb eines Bachelors ermöglicht,

  • Berufskolleg als regionales Kompetenzzentrum, z. B. Angebote vollzeitschulischer Ausbildungen bei auftretenden Engpässen auf dem Ausbildungsstellenmarkt oder Angebote zur Beschulung bei starker Zuwanderung seit 2015/16.

Forderungen zur Stärkung der Berufskollegs

Bereits die vorherige Landesregierung hat, u. a. durch die Angleichung der Schüler-Lehrer-Relation im beruflichen Gymnasium an die der gymnasialen Oberstufen, die Personalausstattung im Berufskolleg mit rund 580 Stellen in Nordrhein-Westfalen verbessert.

Um aber die in der Studie genannten Leistungspotenziale unter immer schwierigeren Rahmenbedingungen auch künftig zu gewährleisten, muss die neue Landesregierung die Berufskollegs als Systemanbieter mit der Vielfalt ihrer abgestimmt durchlässigen Bildungsangebote weiter stärken:

  • Nachhaltige Imagekampagne für Berufskollegs
    Die Studie zeigt die Bedeutung der Berufskollegs. Leider ist das Berufskolleg für viele Eltern, aber auch allgemein bildende Schulen und die sonstige Öffentlichkeit weitgehend unbekannt – trotz vielfacher Informationsaktivitäten der Berufskollegs vor Ort. Der vLw erwartet eine aktuelle, breit gefächerte zielgruppenspezifische Informationskampagne über das Berufskolleg in NRW.

  • Berufskollegs müssen in der SEK I beraten dürfen
    Die sinkende Ausbildungsquote und der zunehmende Trend zum Übergang in die gymnasiale Oberstufe sind angesichts des Fachkräftemangels alarmierend. Schülerinnen und Schüler müssen zu Beginn der Klasse 10 viel umfassender über die berufliche Bildung als Option nach der Klasse 10 und der Klasse 12 informiert werden. Dies muss durch Beratungen der Berufskollegs in der SEK 1 und flankierend durch konkrete Projekte und Kooperationen mit Berufskollegs und Betrieben erfolgen.
    Gerade angesichts der Umstellung von G8 auf G9 müssen alle Schülerinnen und Schüler der Klasse 10 sowie deren Eltern das berufliche Gymnasium als Alternative kennen, das bekannterweise viele Übergänge in die Berufsausbildung ermöglicht.

  • Berufskollegs müssen flexibler reagieren können
    Gerade die benachteiligten Schülerinnen und Schüler, z. B. in der Ausbildungsvorbereitung und der Berufsfachschule, benötigen kleinere Lerngruppen, um individueller gefördert und besser sozial und beruflich integriert zu werden. Um dies zu erreichen und noch flexibler auf Ausbildungs- und Arbeitsmarktänderungen reagieren zu können, fordert der vLw u. a.:
    + Senkung der Schüler-Lehrer-Relation in Anlage B,
    + Kappung der Deckelungsgrenze für die Schulleitungspauschale und
    + die mittelfristige Erhöhung der Stellenbesetzungsquote auf 110 % bis zum Jahr 2027.

  • Berufskollegs bieten Weiterbildung zum Master
    Die Expertise und die regionale Verankerung der Berufskollegs müssen zur Weiterqualifizierung von Fachkräften auch schulische Weiterbildungsangebote umfassen, die nach dem Bachelor Professional in der Fachschule (Anlage E) und max. 400 Stunden einen Master Professional im Berufskolleg ermöglichen.

  • Berufskollegs benötigen passgenaue Digitalisierung Unabhängig von der Finanzkraft eines Schulträgers benötigen die Berufskollegs eine passgenaue Infrastruktur (mit Gigabit-Anbindung, WLAN, zielgruppengerechten Endgeräten), Rahmenverträge zur Nutzungsfreigabe unerlässlicher, kommerzieller Standard- und Branchensoftware (wie z. B. Office 365) und ein Unterstützungssystem für die IT (first-level-support etc.) durch die kommunalen Schulträger.

  • Berufskollegs brauchen attraktive Arbeitsplätze
    Nur eine attraktive Laufbahn für Lehrkräfte am Berufskolleg sichert langfristig den Nachwuchs, z. B. durch Prämien für Lehrämter in Mangelfächern, mehr Beförderungsmöglichkeiten zu A14/EG14 und A15/ EG15 oder durch Zurruhesetzung für alle Lehrkräfte am Monats- ende nach Erreichen der Altersgrenze.

Der vLw hat diese Forderungen schon mehrfach erhoben, u. a. bei der Formulierung seiner Wahlprüfsteine3. Einschlägige Studien, wie z. B. der Fachkräftemonitor der IHK in NRW (https://www.ihk-fachkraefte-nrw.de/) und die alarmierende Ersatzbedarfsrelation 4 verdeutlichen den großen Handlungsbedarf.

Die Sicherung des Fachkräftebedarfs erfordert eine attraktivere Berufsbildung als Option für alle, die die Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung voraussetzt. Dazu muss das Berufskolleg mit allen Bildungsgängen gestärkt werden, um so die Synergien für alle besser zu nutzen.

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Hilmar von Zedlitz-Neukirch

Landesvorsitzender

Beatrix Heithorst

Vorsitzende Ausschuss Schul- und Bildungspolitik

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